Leerstellen sagen oft mehr aus als Bilder. So besitzt zwar das Serbische Nationalmuseum in Belgrad ein Exemplar des Monumentalgemäldes „Wanderung der Serben“ von Paja Jovanović. Doch das Bild wird in der neuen Dauerausstellung des frisch renovierten Museums nicht gezeigt.

Warum? Das Gemälde könnte missbraucht werden, sagt Chefkuratorin Lidija Ham Milovanović. Es zeigt den Auszug der Serben aus dem Kosovo nach dem erfolglosen Aufstand gegen die Türken 1689 und gehört zu den Ikonen des serbischen Nationalismus.

Der Verlust des Kosovo, der Wiege der Nation, befeuert seit der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 diesen Nationalismus. Mit einer Rede auf dem Schlachtfeld 600 Jahre nach der Niederlage gegen das Osmanische Reich entfachte Serbenführer Slobodan Milošević die Balkankriege, die mit dem endgültigen Verlust des Kosovo, der Vertreibung der Serben aus Kroatien und internationalen Sanktionen gegen Serbien endeten.

Der Übergang zum neuen Serbien fasziniert

Nun kehrt Serbien in die europäische Kultur zurück. Dazu gehören nicht nur die Beitrittsverhandlungen zur EU, dazu gehört vor allem die Abkehr vom nationalistischen Narrativ. Das Nationalmuseum zeige „die Wanderungen der Völker und die Wandlung der Kulturen“, sagt die Kuratorin. Multikulturalismus statt Identitätspolitik gilt jetzt als Leitlinie des neuen Serbien.

Dieser Übergang – ein politischer und kultureller Drahtseilakt – ist faszinierend, auch für Reisende, die sich für Geschichte und Gegenwart auf dem Balkan interessieren. Nirgendwo kann man ihn besser beobachten als in Belgrad und im Norden Serbiens, in der Vojvodina, die immer schon multikulturell war und immer noch für mindestens 24 verschiedene Nationalitäten Heimat ist.

Serbiens Hauptstadt liegt zwar mitten im Land, ist aber trotzdem eine Grenzstadt. Geografisch sitzt Belgrad auf der gebirgigen Balkan-Platte und blickt nach Norden in die weite Ebene der Vojvodina. Historisch war hier an der Donau die Nordgrenze des Römischen Reichs, und die Save, die bei Belgrad in die Donau fließt, war die Trennlinie zwischen Ost- und West-Rom. Serbien südlich der Donau war Teil des Osmanischen Reichs; die Vojvodina wiederum gehörte zum Habsburger Imperium.

Belgrad ist immer noch eine Stadt der Gegensätze. Auf dem Kalenić-Markt bieten alte Frauen mit Kopftuch Gemüse feil, während junge Frauen an ihnen vorbeiflanieren, hochhackig und tief dekolletiert. Vor dem Orthodoxen Patriarchat protestieren Fromme mit Heiligenbildern gegen die „Besatzung“ der serbischen Seele durch Amerikaner, EU, Freimaurer und Juden.

Wenige Straßen weiter hört man fast so viel Englisch wie in Berlin-Kreuzberg, denn die Kaffeehauskultur der alten proeuropäischen Elite wird durch die Coffee Culture der neuen proeuropäischen Jugend abgelöst. In der Synagoge finden sich selbst zu hohen Feiertagen nur noch wenige Belgrader Juden ein. Doch mein Hotel hat beim Frühstücksbüffet eine Kosher Corner für die vielen Gäste aus Israel.

Dieses Jahr marschierten Serbiens Premierministerin und Belgrads Bürgermeister in der Gay-Pride-Parade mit – allerdings durch eine von der Polizei angeblich aus Angst vor Hooligans abgeriegelte, leer gefegte Innenstadt.

Junge zieht es in die USA, nach Kanada, in die EU

Nordwärts geht es über die Donaubrücke in die Vojvodina. Das sich bis zum Horizont erstreckende flache Land ist durch Maisanbau und Schweinezucht geprägt, die Städte immer noch durch die Habsburger Vergangenheit.

In Vršac wird im Herbst die Weinernte gefeiert. Ganze Schweine drehen am Spieß, durch die Straßen und Gassen ziehen Weinprinzessinnen und Honoratioren mit vollen Weingläsern zu den Klängen der obligatorischen Zigeunerkapellen, für die wenigstens für ein paar Minuten die Lautsprecher mit amerikanischer Discomusik ausgeschaltet werden.

Durch das Gedränge schieben sich bullige Männer, laut T-Shirts die „Rugby Warriors Timisoara“. Die rumänische Stadt Temeswar ist nur 75 Kilometer, die Grenze zu Rumänien nur zehn Kilometer entfernt, Vršac ist das Zentrum der rumänischen Minderheit in Serbien.

„Wir sind im Laufe unserer Geschichte 74 Mal erobert worden und halten uns immer noch“, sagt Ion Cissmas, Präsident des Exekutivrats der Rumänen in Serbien. Der 50-jährige hiesige Pfarrer der Rumänisch-Orthodoxen Kirche musste aus Temeswar importiert werden.

Denn die Existenz der Rumänen in Serbien wird heute nicht durch Eroberungen bedroht, sondern durch die Verlockungen des Westens. 220.000 Rumänen gab es beim Fall des Titoismus in diesem Teil der Vojvodina, dem Banat: 50 Siedlungen, jede mit eigener Kirche und eigenen Schulen. Heute sind es 40.000. Die jungen Leute wollen weg: in die USA, nach Kanada, in die EU.

„Wir in der Vojvodina sind Europa im Kleinen“

Trotzig halten die Verbliebenen an ihren Mythen fest und feiern sich dafür, dass ihre Vorfahren, die Daker, die Römer an der Donau aufhielten. Dass hier, auf heute serbischem Gebiet, das erste rumänische Fürstentum entstand – Serbien ist ja nicht das einzige Balkanland, dessen Herz außerhalb der heutigen Staatsgrenzen liegt.

Dass die serbischen Rumänen, was Arbeit und Pünktlichkeit betrifft, eine deutsche Mentalität hätten und deshalb „eine große Nostalgie“ für die Donaumonarchie empfänden und „im Herzen Europäer“ seien. Ein Satz übrigens, den man in der Vojvodina auch von Slowaken und Kroaten, Ungarn und Ruthenen immer wieder hört. In Serbien ist Europa noch ein Zukunftstraum.

In Kovačica empfängt die naive Malerin Zuzana Vereski Besucher in traditioneller slowakischer Tracht. „Naiv“ sind allenfalls Vereskis Bilder, die ein idyllisches Dorfleben feiern, das so nie existiert hat, schon gar nicht in diesem Land der Armut und Bauernaufstände. Die Malerin selbst ist alles andere als naiv.

Schon zu Zeiten Titos waren sie und eine Handvoll ihrer Kollegen Berühmtheiten. Der Diktator ließ in Kovačica ein Museum naiver Malerei errichten und führte Staatsgäste hierher. Das Ende des Sozialismus hat Vereski gut überstanden; ihre Werke werden in der ganzen Welt ausgestellt. Die Malerin ist, wie viele im Land, für einen EU-Beitritt: „Wir in der Vojvodina sind Europa im Kleinen.“

Ethno-Kitsch lockt Urlauber in Gegenden mit Abwanderung

Etwas weniger europabegeistert ist man im kroatisch geprägten Dorf Donij Tavankut. Das Gebiet im Nordosten der Vojvodina lebt vom Obstanbau, in den Straßen duftet es nach Äpfeln und Paprika, und der Hauptabnehmer ist Russland. „Wenn wir der EU beitreten und die Sanktionen gegen Russland auch für uns gelten, haben wir ein großes Problem“, sagt ein Bauer.

Also setzt man auch hier auf ein neues Standbein: den Ethnotourismus. Reisende sollen sich an rustikalen Unterkünften, rustikalem Essen und rustikaler Kunst erfreuen. Und so empfängt auch in Donij Tavankut eine ältere Dame in traditioneller Tracht die Besucher: Marija Vojnić, 70, und andere Frauen aus dem Dorf schaffen mit großer Kunstfertigkeit Bilder aus Stroh, die sie in einer Galerie ausstellen.

Es handelt sich, geradeheraus gesagt, wie bei der naiven Malerei um Ethno-Kitsch, der im Sozialismus entstand und mit der traditionellen Kultur der Kroaten genauso wenig zu tun hat wie Tiroler Holzschnitzerei, die an Touristen aus den USA oder Japan verscherbelt wird. Aber der Kitsch lockt immerhin Urlauber in Gegenden, die mit starker Abwanderung zu kämpfen haben.

Donij Tavankut etwa hatte 1968 noch 8000 Einwohner, heute sind es 3400. Viele gingen in den 1990er-Jahren weg, während des Krieges zwischen Serben und Kroaten. Es wären wohl alle gewesen, hätte nicht Ungarn Milošević mit Repressionen gedroht – die Ungarn sehen sich bis heute als Schutzmacht der Minderheiten in diesem bis 1918 zur K.-u.-k.-Doppelmonarchie gehörenden Gebiet. Der Schwund ist trotzdem kaum zu stoppen.

In Vršac wie in Kovačica und Donij Tavankut spricht man trotzig davon, Sprache, Kultur, Sitten und Rechte der Minderheiten zu erhalten, als wäre das noch eine Option. Am Ende überleben Kulturen jedoch nicht durch die Konservierung von Folklore, sondern durch die Neuinterpretation von Tradition. Das muss sich in Europa aber erst herumsprechen, nicht nur in Serbien.

Multikulti gilt nicht nur in Belgrad als Stärke

Dass ein urbaner, moderner Multikulturalismus einmal selbstverständlich auch hier gelebt wurde, davon zeugt die Synagoge im ungarisch geprägten Subotica. Das renovierte Gebäude ist eine Perle des Budapester Jugendstils, der die Stadt geprägt hat.

Die Architekten der Synagoge, Marcell Komor und Dezsö Jakab, bauten in einem ähnlichen Stil das imposante Rathaus, Symbol von Bürgerstolz und Fortschrittsglauben am Anfang des mörderischen 20. Jahrhunderts. Komor wurde 1944 Opfer des Holocausts.

An den Holocaust erinnert eine Plastik am Ufer der Donau in Novi Sad, der Hauptstadt der Vojvodina. Im Januar 1942 wurde hier von den mit Deutschland verbündeten ungarischen Besatzern ein Pogrom organisiert, dem 1426 Menschen zum Opfer fielen, hauptsächlich Serben und Juden.

Die Festung gegenüber ist nachts illuminiert, die Brücke, die über die Donau führt, leuchtet abends in Regenbogenfarben. Das Mahnmal aber – eine Familie, Vater, Mutter, Kind – bleibt nachts unsichtbar. Stört es vielleicht die neue Erzählung von Wanderung und Wandlung? Dabei gehört der Widerstand der Serben gegen die Deutschen und ihre willigen Vollstrecker zu den hellsten Seiten ihrer Geschichte.

Novi Sad wird 2024 Kulturhauptstadt Europas

In der Nähe der dunklen Bronzefamilie trinken und feiern Jugendliche aus der Stadt und ihre Freunde aus allen Ländern Europas. Novi Sad wird Kulturhauptstadt Europas 2024, noch so ein Zeichen für Serbiens Rückkehr nach Europa.

Vuk Radulović wirbt im Auftrag seiner Stadt um internationale Kooperationspartner. Er spricht von Diversität als Stärke, von Migration als „Teil unserer Identität“, von europäischen Idealen. Und wer diese Ideale nicht teilt? „Nun, der ist für Russland.“

Seine Antworten zeigen, wie Serbien um seine Seele ringt. Das als Besucher zu erleben ist vielleicht der faszinierendste Grund für eine Reise in die Vojvodina.

Hinzu kommt: Die Menschen sind freundlich, die Städte malerisch, das Essen ist erstaunlich gut und preiswert, der Wein eine Entdeckung wert. Am wichtigsten aber ist, dass man in Serbien Europa als positive Utopie wiederentdecken kann. Spätestens 2024 sollte man wieder hinfahren.

Tipps und Informationen

Anreise: Verschiedene Fluggesellschaften bieten Direktflüge nach Belgrad an, etwa Lufthansa, Air Serbia, Easyjet oder WizzAir.

Unterkunft: „Metropol Palace“ in Belgrads Innenstadt, großer Wellnessbereich, Doppelzimmer ab 81 Euro, marriott.com. In Novi Sad empfiehlt sich das „Centar“, zentrale Lage, Doppelzimmer mit Frühstück ab 80 Euro, hotel-centar.rs/homepage-1/. In Subotica: „Hotel Galleria“, zentral gelegen, Doppelzimmer mit Frühstück ab 75 Euro, galleria-center.com/de/

Weitere Infos: Nationale Tourismusorganisation Serbien, serbia.travel. Einen guten Überblick über Serbien-Reiseveranstalter gibt es hier.

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von der Nationalen Tourismusorganisation Serbien. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.de/unabhaengigkeit.

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