Es ist Samstagabend, und in meiner Tasche steckt eine Karte für die Streetdance-Performance “Nutcracker Reloaded”. Als ich mit dem Fahrrad auf den Theaterparkplatz biege, habe ich nur eine Sorge: Was ist, wenn Hannah mich scheiße findet?

Irgendwo hier muss sie stehen. Während ich mein Rad abschließe, schaue ich mich unauffällig um. Da hinten, das könnte sie sein. Sie steht etwas abseits und schaut auf ihr Handy. Ich hole meines heraus und drücke auf den erst kürzlich gespeicherten Namen. Sie direkt anzusprechen traue ich mich nicht.

Es tutet, dann höre ich zum ersten Mal ihre Stimme: “Ja, hallo?” Das Mädchen vor mir hat ihr Smartphone noch immer vor der Nase. In letzter Sekunde ändere ich meinen Kurs und steuere stattdessen auf den Haupteingang zu. “Bin gleich da”, sagt die echte Hannah am anderen Ende der Leitung. Ich reibe mir mit dem Zeigefinger mögliche Lippenstiftreste von den Zähnen.

Ich kenne Hannah noch nicht, aber ihre Rolle in meinem Leben steht fest: Sie soll meine neue beste Freundin werden.

Wer zum Studieren in eine neue Stadt zieht, ins Auslandssemester startet, eine Trennung durchmacht, der merkt: Freunde sind wichtig – aber nicht selbstverständlich. Im richtigen Moment die richtigen Menschen an seiner Seite zu wissen ist wunderschön. Doch die richtigen Menschen erst einmal an seiner Seite zu versammeln, ist jede Menge Arbeit – zumindest, wenn man älter ist als sechs.

Mir ist das erst als Erwachsene so richtig klar geworden. Denn ich hatte Glück: Freundschaft, das hat bisher irgendwie von allein funktioniert. Drei Monate auf der Welt, in der Krabbelgruppe die Hand ausgestreckt, und seitdem mit Lisa befreundet. Weil sie Ballett getanzt hat, habe auch ich angefangen. Unsere Lehrerin hat uns nicht mehr bei unseren Namen, sondern nur “die siamesischen Zwillinge” gerufen. Als mein Papa letztes Jahr gestorben ist, hat Lisa auf seiner Trauerfeier “Der Mond ist aufgegangen” gesungen. Das Lied hat er uns beiden vor dem Einschlafen vorgesungen, wenn sie bei mir übernachtet hat.

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Ausgabe 5/2018

Gesucht: Freunde
Neue Stadt, neues Semester, neuer Job – wie findet man die richtigen Leute?

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Mit all meinen Freundinnen teile ich ähnliche Geschichten. Mit Lia bin ich in den Ferien auf den Ponyhof gefahren. Und wenn ich abends noch keine Lust hatte, nach Hause zu gehen, habe ich einfach eine Tür weiter geklingelt und mich bei Alinas Familie an den Abendbrottisch gesetzt.

Wenn man Statistikern glaubt, soll das erheblich zu meinem bisherigen Lebensglück beigetragen haben: Wer gute Freunde hat, lebt länger, fühlt sich weniger schnell gestresst, hat ein stärkeres Immunsystem und weniger Sorgen. Freundschaften stabilisieren unser Ich, helfen uns durch Krisen, brauchen aber auch Zeit und Zuwendung.

War es naiv, ausschließlich an den Kinderfreunden zu hängen?

In der Schule waren meine Freunde immer irgendwie da, ganz selbstverständlich. Kontakt zu halten kostete keine Mühe. Doch dann kam das Abitur. Alina ging nach Osnabrück, Lia zum Film, Lisa und ich zogen nach Lüneburg. An meinem zweiten Tag in der Uni küsste ich betrunken den Typen, mit dem ich meine erste Beziehung begann. Gefangen in der Blase frischer Verliebtheit und der Sicherheit meiner Freundinnen, die immer noch in der Nähe wohnten, bemühte ich mich kaum um neue Bekanntschaften.

Nach einem Auslandssemester bin ich für eine Weile zurück in meine Heimatstadt Hamburg gezogen und habe festgestellt, dass sich mein Freundeskreis verändert hat. Früher habe ich Alinas Festnetznummer dreimal täglich gewählt. Heute erfahre ich per WhatsApp, dass sie mit Zoe und Timo für die nächste Klausur lernt. 232 Kilometer entfernt von mir. Selbst mit denen, die noch in der Nähe wohnen, müssen Treffen plötzlich Wochen im Voraus geplant werden. Die anderen haben sich weiterentwickelt, haben neue Freundeskreise aufgebaut, die auf einmal mit mir konkurrieren.

Ich bin enttäuscht von mir selbst. Neue Leute, viele Kontakte, das haben alle hinbekommen, außer mir. War es naiv, ausschließlich an den Kinderfreunden kleben zu bleiben?

Projekt: Freunde finden

Ich merke, wie mir das immer mehr fehlt: Ich will auch die Möglichkeit haben, in ganz großer Runde zu feiern. Wenn ich abends spontan ausgehe, sollen mehr als drei Leute da sein, mit denen ich losziehen will. Ich wünsche mir Menschen, die frischen Wind in mein Leben bringen und mich so kennenlernen, wie ich heute bin.

Nur: Wo sollen die herkommen? Anders als im Kindergarten muss ich mich diesmal aktiv bemühen, mich auf die Suche machen. Projekt: Freunde finden. Andererseits kann ich ja nicht einfach in die nächste Kneipe laufen und die Leute fragen, ob sie meine Freunde sein wollen. Ich bleibe also erst mal auf dem Sofa und schnappe mir mein Smartphone.

Ich suche eine Art Tinder für Freundschaften und stoße auf die App “Freunde finden in Hamburg”. Dort werden mir Frauen zwischen 20 und 40 vorgeschlagen, zu jedem Profil gibt es ein Foto und kurze Beschreibungstexte. Tini ist “schlank”, RomyHH hat “ein paar Kilos zu viel” – nicht wirklich Eigenschaften, die eine Seelenverwandte ausmachen, finde ich. Rechts oben leuchtet der Satz “Du suchst vielleicht doch mehr als nur eine gute Freundin? Dann finde hier Single-Frauen aus Hamburg.” Mir reicht’s. Ich schließe das Suchfenster.

Also vielleicht doch lieber die Offline-Welt. Abends beim Yoga versuche ich beim Zusammenrollen meiner Matte eine Blondine mit bunten Leggins anzusprechen, die ich sympathisch finde. Doch immer wenn ich Luft hole, um den Satz “Tolle Hose, hast du vielleicht Lust, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?” herauszupressen, steigt die Angst vor Ablehnung in mir auf. Sicher wäre sie irritiert, und vermutlich hat sie genug Freundinnen. Vielleicht denkt sie sogar, ich frage sie nach einem Date.

Ich bin nicht allein

Freunde zu suchen ist unangenehm. Und es ist auch ein bisschen peinlich. Wer Single ist, kann selbstbewusst sagen, er oder sie genieße seine Freiheit. Wer keine Freunde hat, mit dem muss sozial etwas nicht stimmen. Oder?

In einer Studie des Allensbach-Instituts gaben 20 Prozent aller Befragten an, keinen einzigen Freund zu haben. Sechzig Prozent halten ihre Freundschaften für verbesserungswürdig, davon ist die Hälfte mit ihnen massiv unzufrieden. Die am häufigsten genannte Kritik: zu seltener Kontakt oder Distanz nach einem Streit.

Von meinem kläglichen Versuch in der realen Welt entmutigt, intensiviere ich meine Bemühungen im Netz. Ich registriere mich auf der Website “Beste-Freundin-gesucht.de”. Auf meinem Handy installiere ich die App “25friends”. Zwei Hamburger Studenten und ein Programmierer haben das Start-up im Mai 2017 gegründet, um Leuten wie mir zu helfen. Sie selbst hatten in ihren Uni-Städten ebenfalls anfangs Probleme, neue Menschen kennenzulernen, erzählen sie mir in einem Interview. Mit dem Programm möchten sie Gleichgesinnte verbinden und erste Schritte erleichtern. Deshalb können sich die Mitglieder in Interessensgruppen zusammenschließen und miteinander chatten – um dann Treffen in der echten Welt zu vereinbaren.

Diese Apps helfen, Freunde zu finden25friends Ein paar Fragen zu den eigenen Interessen beantworten, das Alter angeben – und schon kann jeder neue Freunde suchen. Entweder zu zweit verabreden oder in der Gruppe zum Grillen. Kostenfrei. (iOS / Android) Meetup Schon millionenfach runtergeladen: die bekannteste App für alle, die neue Kontakte finden wollen. Hunderte Untergruppen: etwa für Bücherfans, Hundehalter, Väter oder Fitnessfreaks. Kostenpflichtig. (iOS / Android) Friendsup Diese Plattform richtet sich speziell an Frauen. Wer auf schrille Sprache steht und gern das Wort “Mädels” nutzt, wird sich hier wohlfühlen. Event erstellen, teilen, und auf die Richtigen hoffen. Kostenfrei. (iOS / Android) Facebookgruppen Der Klassiker, ohne Neuanmeldung: Über Gruppen wie “Neu in Hamburg” lassen sich schnell Leute für einen gemeinsamen Partyabend oder den nächsten Ausflug finden. Kostenfrei.

Ich trete “Mädels in Hamburg”, “Brunchen<3” und “Salsa/Bachata” bei. Ein Profilbild lade ich nicht hoch. Ich will nicht erkannt werden, für den Fall, dass alte One-Night-Stands oder Klassenkameraden Mitglieder sind. Während ich durch die Chats scrolle und mir die Pinnwandeinträge anderer Nutzer durchlese, schwindet meine Befürchtung, als unbeliebter Loser abgestempelt zu werden. Es sind viele. Ich bin nicht allein.

Bin ich zu ehrlich?

In der Brunch-Gruppe organisiert eine Larissa gerade ein Treffen für diesen Samstag. Ein Platz ist noch frei. Will ich? Die Vorstellung, gleich 14 Leute auf einmal zu treffen, überfordert mich. Ich kneife.

Dabei sind die meisten Nutzer dankbar für den Schutz der Gruppe, sagt App-Gründer Ramin Ataei. So falle nicht auf, wenn jemand etwas schüchterner ist. Und wenn es mit dem Sitznachbarn nicht passt, stehen noch genug andere Gesprächspartner zur Verfügung. Gerade Männer trauen sich untereinander häufig nicht in eine Zweiersituation. Und mit einer Frau allein essen zu gehen sei wie ein Date.

Vielleicht brauche ich einfach eine kleinere Gruppe. Hannah will Karten für eine Tanz-Performance kaufen, postet sie in der App, und sucht Leute, die sie begleiten. Ich schreibe einen Kommentar. Kurze Zeit später haben wir Tickets.

Auf der Beste-Freundin-Website läuft es unterdessen eher schleppend. Ich habe einige Nachrichten verschickt, Antworten: null. Auch von meiner Anzeige scheint sich niemand angesprochen zu fühlen. Die Zurückweisung schmerzt mehr, als ich erwartet hatte. In meinem Profiltext steht, dass ich seit Jahren versuche, Spanisch zu lernen, und abends um neun schon im Bett bin. Ich war so ehrlich wie möglich. Vielleicht zu ehrlich?

Beim Daten versteckt man am Anfang seine Macken. Aber gerade das ist doch das Besondere an Freundschaften: sich nicht verstellen zu müssen, das Ungefilterte von Anfang an. Wahrscheinlich verletzt mich die Null in meinem Postfach deshalb mehr, als der Korb eines Mannes es jemals könnte. Was ich auf der Website geschrieben habe, ist viel intimer als nur mein Gesicht zum Weiterwischen. Wer mich bei Tinder nicht matcht, steht einfach nicht auf brünett. Wer mich bei “Beste-Freundin-gesucht.de” ignoriert, will meine Persönlichkeit nicht kennenlernen.

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Ich starte einen neuen Versuch. Dass ich einen Freund habe, lösche ich. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als suchte ich einen Lückenfüller für die Tage, an denen mein Partner keine Zeit hat. Ich passe mich den anderen Anzeigen an, schreibe, dass ich gern Tee trinke und Bücher lese.

Freunde suchen ist wie Diamanten schürfen: Es dauert.

Schließlich antwortet Ulla. Sie will sich mit mir zum Spazierengehen verabreden.

Wir treffen uns im Stadtpark, ich erkenne sie sofort – aber das Gespräch wird schwierig. Sie beschwert sich pausenlos über ihre alten Freundinnen, ich fühle mich wie der Mülleimer für ihre Aggressionen. Wenn ich ihr Fragen stelle, beantwortet sie diese zwar, scheint aber umgekehrt nichts über mich wissen zu wollen. Als ich ihr trotzdem etwas erzähle, unterbricht sie mich und berichtet stattdessen von einer weiteren Ex-Freundin, die sie wegen Kind, Partner oder Job sitzen gelassen hat. Die eine Stunde, die wir brauchen, um den Park zu umrunden, kommt mir vor wie fünf. Wo ich normalerweise extra Schlenker mache, dränge ich Ulla zu Abkürzungen.

Natürlich ist es unrealistisch zu erwarten, dass es direkt beim ersten Treffen funktioniert. In seinem Buch “Freundschaft beginnen, verbessern, gestalten” vergleicht der Psychologe Wolfgang Krüger die Suche nach einem neuen Freund mit dem Schürfen von Diamanten. Auch wer sich mindestens einmal im Monat mit einem Fremden trifft und aufrichtig versucht, die Beziehung zu vertiefen, entwickelt daraus in den seltensten Fällen eine Freundschaft.

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Freundschaft

beginnen – verbessern – gestalten

Books on Demand Verlag; 184 Seiten; 9,90 Euro

Ähnliche Interessen, geteilte Werte, sozialer Status – all das hat Einfluss darauf, mit wem wir uns anfreunden. Wer Gemeinsamkeiten hat, streitet weniger. Auch eine vergleichbare Lebenssituation verbindet, wie beispielsweise die Geburt des ersten Kindes. Solange wir von der Ähnlichkeit überzeugt sind, spielt es übrigens keine Rolle, ob sie tatsächlich existiert. Unterschiede fördern Freundschaften, wenn sie die Persönlichkeit betreffen: Laut liebt leise und umgekehrt. Ähnelt sich der Charakter von zwei Menschen zu sehr, wird es irgendwann langweilig.

Netter als erwartet

Am nächsten Abend stehe ich vor dem Theater Kampnagel und begrüße Hannah, 26, und Mariella, 34. Sofie, 36, und Gina, 37, gesellen sich dazu. Wir kommen schnell ins Gespräch und lachen viel. Ich bestelle eine Mate, damit ich nach dem Stück wach genug bin, um etwas Geistreiches darüber sagen zu können. Dabei haben wir, wie sich zeigen wird, auch so genug Gesprächsthemen. Hannah ist vor einem Jahr aufgrund ihres Jobs nach Hamburg gezogen und nutzt die Freundschafts-App seit sechs Monaten. Nach einigen Treffen hat sie zwei Jungs gefunden, mit denen sie jetzt richtig gut befreundet ist. Mit dem einen hat sie sogar spontan Silvester in Kopenhagen verbracht.

Stunden später endet der Abend in Umarmungen und dem Austauschen von Handynummern. “Kleiner Tisch, viele Frauen” heißt unsere WhatsApp-Gruppe, ein Insider, der sich beim Bezahlen entwickelt hat.

Während ich auf meinem Fahrrad durch die Dunkelheit nach Hause fahre, denke ich über die unterschiedlichen Mädels nach. Ich habe Lust, sie besser kennenzulernen. Natürlich war der Abend anders, als wäre ich mit meinen alten Freundinnen Cocktails trinken gegangen. Die Gesprächsthemen waren oberflächlich, weil wir noch nicht genug übereinander wissen. Trotzdem war es nett, viel netter als ich es erwartet hatte.

Als ich das Licht im Hausflur anknipse, blinkt auf meinem Bildschirm eine Nachricht auf: Sofie schlägt vor, demnächst gemeinsam zu den Opernwochen zu gehen. Als ich meine Antwort tippe, haben alle anderen aus der Gruppe bereits zugesagt.

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