„Alles begann zufällig 1996 in einer Hotellobby mit Thomas, Johnny und mir“, sagt der Hüne Jaak Aaviksoo. Der 64-Jährige zieht die Augenbrauen wie ein Märchenerzähler hoch. Thomas heißt mit Nachnamen Ilves, war damals Außenminister, später zehn Jahre Estlands Präsident. Und Johnny? „Ein Schotte. Nachname: Walker.“

Aaviksoo passt ideal zur Legende vom „Tigersprung“. Das Synonym steht in Estland für den sagenhaften Aufstieg als führende Digital-Nation. Der Rektor der Technischen Universität (11.000 Studenten) in der Hauptstadt Tallinn, fünfsprachig, fast zwei Meter groß, einst Kultus- und -Verteidigungsminister, wirkt wie die Inkarnation des „Tiigrihüpe“, wie Tigersprung aus Estnisch heißt.

Ulf Lüdeke TU-Direktor und “Tigersprung”-Vater Jaak Aaviksoo.  

Dreiviertel der Esten surfen blitzschnell im Glasfasernetz – in Deutschland nur 2 Prozent

Auch wenn „Hüpe“ mehr nach Hüpfer klingt, hat das Land nach der Unabhängigkeit 1991 von der Sowjetunion einen Digitalstart hingelegt, um den es jede EU-Nation beneidet. Das baltische Land, das am östlichen Ende des Finnischen Meerbusens an Russland grenzt, ist so groß wie Niedersachsen, zur Hälfte von Wald und Mooren bedeckt. 1,3 Millionen Menschen leben dort, gerade einmal so viele wie in München.

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Doch 99 Prozent der Esten sind längst ans Breitband angeschlossen. Fast 75 Prozent surfen sogar im ultraschnellen Glaserfaser-Breitband, mit einer Download-Geschwindigkeit von bis zu 1 GB/sec. Das toppt niemand in Europa, schon gar nicht Deutschland, wo es gerade einmal 2,1 Prozent sind. Während zwischen estnischen Fichten flächendeckend 4G funkt und 5G ist auf dem Vormarsch ist, plagen wir uns noch immer mit 80 Jahre alten Kupferkabeln rum. Bei 100 MB/sec ist Schluss mit digitalen Wonnen. PDF Die besten Kliniken Deutschlands 2019

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Die Klärung einer grundsätzlichen Frage

Im industrielosen Estland laufen die Dinge jedoch völlig anders, auch wenn es manchmal schwerfällt, das zu glauben. Jaak Aaviksoos Büro liegt im vierten Stock des Hauptgebäudes der TU im Ortsteil Mustamäe, wo noch heute der Charme russischer Plattenbauten schockt. Fünf Kilometer weiter nordöstlich aber funkeln kleine Wolkenkratzer aus Glas, Stahl und Stein. Die akribisch restaurierte Altstadt des einstigen Reval, wo bis 1885 in Behörden und Schulen Deutsch gesprochen wurde, gleicht mit imposanten Hanse-Häusern einer Märchenbuchkulisse.

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Als Aaviksoo vor 22 Jahren mit Ilves in einer Talliner Hotellobby versackt war, war von dem Glanz noch nichts zu sehen. Den Männern war es in jener Nacht ohnehin um eine andere Vision gegangen – um die Klärung einer grundsätzlichen Frage. „Wir wollten weg von allem, was russisch war – so schnell wie möglich“, sagt der TU-Direktor. Am Ende jener weißen Sommernacht soll die Flasche Johnny Walker leer gewesen sein. Und der Tiger hatte zum Sprung angesetzt.

Grundvoraussetzung für diesen epochalen Wandel war das Verschwinden des Rubels samt russischem Bankensystem aus Estland. „Wer nicht bar mit der wiedereingeführten Krone zahlte, überwies Geld per Computer in den neuen Geldinstituten. Schecks und Papierüberweisungen hat es in Estland nach 1991 nie mehr gegeben“, erinnert sich Aaviskoo. Zudem fehlte es an Geld für den Aufbau einer neuen, klassischen Verwaltung. „Das, dachten wir, lässt sich am besten durch Computer lösen. Und so beschlossen Ilves und ich, für den Aufbau eines komplett neuen Systems zuerst jene mit Computern auszurüsten, die unsere Zukunft schmieden: die Schulen.“

Ulf Lüdeke Gilt als “Silicon Valley” des Nordens: Esltands Hauptstadt Tallinn.  

Die Grundvoraussetzung für diese geniale Idee schuf unter anderem die Tatsache, dass mit dem Rubel damals auch das russische Bankensystem aus Estland verschwand, erinnert sich Aaviskoo. Wer nicht bar mit der wiedereingeführten Krone zahlte, überwies per Computer in den neuen Geldinstituten, Schecks und Papierüberweisungen hat es in Estland nach 1991 nie mehr gegeben. Außerdem fehlte es schlicht an Geld für den Aufbau einer effektiven, neuen, klassischen Verwaltung, die übrigens nach deutschem Vorbild entstand. „Das, dachten wir, lässt sich am besten durch Computer lösen. Und so fassten Ilves und ich den Beschluss, für den Aufbau eines komplett neuen Systems zuerst jene mit Computern auszurüsten, der unsere Zukunft schmieden: die Schulen.“

Alle Esten machen mit bei der Digitalisierung

Das Internet hatte 1996 gerade erst seinen globalen Siegeszug begonnen. In Estland dauerte es dennoch nur drei Jahre, da waren alle Schulen am Netz. Das Geld für den Ausbau sei dabei keinesfalls nur vom Staat gekommen. Estland verfügt über keine nennenswerte Industrie, die Zeit unter den Sowjets hatte das Land ausgezehrt, blickt Mr. Tiigrihüpe zurück. „In den Gemeinden entstand deshalb sofort ein riesiger Eifer unter Eltern, Lehrern und Kommunen, selbst Geld zu sammeln, wenn bekannt wurde, dass eine andere Schule bereits Computer hatte, die eigene aber noch nicht.“ Das war der Auslöser für die digitale Revolution Estlands, die den Esten über einen elektronischen Personalausweis und Computer fast lückenlosen Zugang zu allen Dienstleistungen verschaffte (siehe Fazit-Kasten).

Deutsche Bürgermeister pilgern zum Silicon Valley des Nordens

Optisch viel futuristischer als der Uni-Campus im Westen Tallinns präsentiert sich der östliche Stadtteil Ülemiste. Einst von Kleinindustrie und russischen Forschungsinstituten geprägt, an denen Software für russische Raumfahrtprogramme entwickelt wurde, nennen es viele Esten schwärmerisch das „Silicon Valley des Nordens“. Hier residieren inzwischen viele Technologie-Institute und Firmen, die sich vor allem dem IT-Sektor widmen. Und hier schufen estnische Ingenieure auch die technischen Voraussetzungen für den Welterfolg von Skype, dem die IT-Branche in Estland einen Boom von Start-up-Unternehmen verdankt.

Im FOCUS Online/Wochit Esten können 99 Prozent öffentlicher Dienstleistungen von der Couch online erledigen  

Da sich der digitale Fortschritt aber schlecht anfassen lässt, hat die estnische Regierung genau hier in einem der modernen Quader des Technologie-Campus den „e-Showroom“ installiert. Und zu dem pilgerten „vor allem deutsche Politiker“, sagt Marketing-Chefin Anna Piperal stolz. Allein im vorigen Jahr kamen mehr als 10.000 Besucher, darunter 680 offizielle Delegationen aus dem Ausland. „Spitzenreiter sind Vertreter deutscher Kommunen. Sie wollen wissen, wie sie effizienter arbeiten können.“

Digitale Verwaltung spart viel Zeit und Geld

e-Governance habe die Verwaltung „komplett verändert“, erklärt die 33-jährige Showroom-Managerin. Es gebe keine Irrtümer mehr bei Gebührenzahlungen. Selbst Polizeistreifen nutzten die Datenbank der Kfz-Stelle und können sich über Nummernschildkontrollen zeitaufwändige Routine-Fahrzeugkontrollen sparen. Und wenn Bürger Steuern zurückerhielten, geschehe dies innerhalb weniger Tage. So spare die Verwaltung jedes Jahr 800 Jahre Arbeitszeit und Kosten in Höhe von zwei Prozent des Bruttosozialproduktes, bilanziert Piperal. Lediglich Eheschließungen, Scheidungen und Immobiliengeschäfte würden noch auf Papier erledigt.

„Der Staat sammelt keine Daten“

Einzig beim Thema Cyber-Sicherheit wirkt Anna Piperal leicht genervt. Der Staat sammele keine Daten, beteuert sie, sondern verwalte nur den Zugriff auf sie. Dafür würden zwei Dinge garantiert. „Erstens: die Daten können nicht verändert oder abgefragt werden, ohne dass der Betroffene das merkt. Zweitens: Bei Missbrauch kann der Geschädigte den Verantwortlichen anzeigen.“ Einige Polizisten und Ärzte seien so schon entlassen worden.

„Deutschen liegt Misstrauen gegenüber digitalen Daten in der DNA“

Der Marburger Wolfgang Drechsler stimmt der Showroom-Managerin in diesem Punkt zu. „Jaaaahh“ dehnt Drechsler die Bestätigung, „dem Deutschen liegt das Misstrauen gegenüber digitalen Daten in der DNA.“ Drechsler muss es wissen. Kaum einer kennt die digitalen Unterschiede zwischen Estland und Deutschland so gut wie er. Der 55-jährige Professor arbeitet am Institut für Innovation und Governance der TU Tallinn bereits seit 25 Jahren. Fakten zur Digitalisierung in Estland

Das bietet der estnische Staat seinen Bürgern

99 Prozent aller öffentlichen Dienstleistungen können die Esten per Mausklick erledigen – und zwar über ihren elektronischen Personalausweis in Verbindung mit dem Internet. Zu den Leistungen zählen:

E-Tax: Seit dem Jahr 2000 können die Esten ihre Steuererklärung online abgeben. Durchschnittliche Dauer: 15 Minuten.e-School: Zugriff per App von Lehrern und Eltern auf die Leistungen der Schüler. Alle Schüler nutzen Smartphones oder Tablets im Unterricht.ID-Card: Keine Warteschlangen mehr, kein Papier: Chip und digitale ID gewähren mit einer zweiten PIN Zugriff auf 99 Prozent der öffentlichen Dienstleistungen.e-Health-System: Rezepte via Internet, Zugriff jedes Arztes auf alle Patientenakten (erfordert Zustimmung des Patienten).e-Voting: Als erstes Land weltweit kann in Estland online gewählt werden.e-Parking: Schluss mit Parkautomaten- und Kleingeldsuche. Sowohl öffentliche als auch private Parkplätze zahlen die Esten per Click mit einer App via Telefongebühren.35.000 Ausländer sind inzwischen „digitale Bürger“, sie können in Minuten in Estland Firmen gründen. Gewinne, die dort reinvestiert werden, sind steuerfrei.

Was Deutschland davon lernen kann

Experten sagen, dass sich das digitale Verwaltungssystem Estlands nicht 1:1 auf Deutschland übertragen lässt. Zum Beispiel, weil das deutsche Steuersystem viel komplexer ist. Aber in vielen Bereichen ist die Effizienz höher. Das kommt vor allem dem Bürger zugute, da er nicht mehr in Ämtern anstehen muss und fast alle Behördengänge online erledigen kann – inklusive digitaler Unterschrift.

Der Neuaufbau der Verwaltung eines kleinen Landes nach Ende des Kalten Krieges gilt als viel einfacher als die Erneuerung einer konventionellen, auf Papier beruhenden Bürokratie, die 70 Jahre gewachsen ist. Es ist aber auch dem Pioniergeist der Esten zu verdanken, die unerschrocken mit einer neuen Technologie umgehen. Und: öffentliche und private Telekommunikations-Unternehmen haben intensiv investiert in schnelle Netze. Da hat Deutschland großen Nachholbedarf: Bei Glasfasernetzen bis zum Endverbraucher liegt die Bundesrepublik 20 Prozent unter dem Durchschnitt von OECD-Staaten.

Die Esten, meint Drechsler, würden dem Staat nicht mehr oder weniger vertrauen als die Deutschen. „Der Unterschied ist, dass sie keine Angst vor ihm haben, vor allem nicht diese irrational große vor einem Datenmissbrauch.“ Der Este sei zudem offener gegenüber neuen Techniken: „Das macht die Digitalisierung des Alltags wesentlicher einfacher.“

Vor allem die Mittelschicht profitiert von der Digitalisierung

Die Geschichte des digitalen Erfolges von Estland sieht Drechsler allerdings etwas nüchterner. Die genannte Einsparung von 800 Jahren Verwaltungsarbeit pro Jahr beispielsweise hält er schlicht für Mumpitz. „Wohl aber verbessert die Umstellung auf digitale Arbeitsabläufe die Qualität der Arbeit“, gibt der Professor zu.

Derjenige, der wirklich davon profitiere, sei „der Bürger der Mittelschicht“, so Drechsler. „Allein, dass er viel Zeit spart mit Behördengängen, erleichtert ihm das Leben.“ Auch den zentralisierten Zugriff auf Patientendaten hält er für sehr sinnvoll. „Im Zweifelsfall kann die komplette Krankenakte Leben retten, weil ein Arzt so möglicherweise schnell etwas erkennen kann, was er sonst vielleicht nicht rechtzeitig erfährt, weil relevante Krankenakten über mehrere Praxen und sogar Städte verteilt sind.“

Eins zu eins lasse sich die estnische e-Governance jedoch nicht auf Deutschland übertragen. Etwa, was die Steuererklärungen betrifft. „Die würden bei uns auch online ewig dauern, weil unser Steuersystem sehr kompliziert und nicht transparent ist.“ Das estnische hingegen gelte als das neoliberalste Europas. „Es ist einfach, Steuerprogressionen für unterschiedliche Gehälter müssen nicht berechnet werden, weil es diese Progression hier nicht gibt.“

 „e-Estonia ist für Estland das, was Mozart für Österreich ist“

Robert Krimmer, der an der TU Tallinn e-Governance lehrt und erforscht, hält den digitalen Erfolg Estlands für einen „reinen Zufall“. Es sei halt alles „zur richtigen Zeit am richtigen Ort“ passiert, so der österreichische Professor: die Wiedererlangung der Unabhängigkeit, der globale Erfolg von Skype, die Tigersprung-Initiative, die auf den Erfolgen aufbauen konnte, die Ingenieure noch zu Sowjet-Zeiten schon vorweisen konnten. „e-Estonia ist für Estland das, was Mozart für Österreich ist.“

Aber auch Krimmer gibt zu bedenken, dass sich trotz vieler Vorzüge nicht alles auf Deutschland so einfach übertragen ließe, was in Estland reibungslos laufe. So trage der enge Kontakt, den die Netzwerkadministratoren pflegten, erheblich zur Sicherheit der Online-Wahlen bei. „Die kennen sich hier alle vom Studium – und gehen zur entscheidenden Lagebesprechung kurz vor der Wahl einfach alle gemeinsam in die Sauna.“ Das, so Krimmer, wäre in Deutschland wohl kaum denkbar.

Alle Geschichten aus der Reihe “14 Länder, 14 Reporter”

Estland:

„Tigersprung“ und hohe digitale Effizienz: Was Deutschland von den Esten lernen kannSkypen im einsamen Hochmoor: Warum in Estland schon bald die 5G-Revolution beginntKinder lernen in Estland früh: Warum digitale Hygiene heute so wichtig wie Zähneputzen istTraumland für Start-ups: Warum Skype so viele Esten reich gemacht hatPrivatsphäre ade: In der digitalen Zukunft haben Menschen kein Geheimnis mehr

Kanada:

Deutscher Professor in Kanada erklärt unseren großen Irrtum in der EinwanderungspolitikUN-Experte: Warum Kanada das beste Einwanderungssystem der Welt hatKanada kämpft plötzlich mit illegaler Einwanderung: Warum Rechte trotzdem keine Chance habenAls er über Leben in Kanada spricht, kommen einem Einwanderer aus Nigeria die TränenIm Vorzeige-Einwanderungsland Kanada raten selbst Liberale: “Seid hart zu Flüchtlingen”

Niederlande:

Weniger Geld, mehr Freiheit: Das Geheimnis zufriedener LehrerLässig, kreativ, fördernd – deshalb lieben deutsche Eltern holländische SchulenHollands Digital-Schulen waren ein Flop: Was Deutschland aus den Fehlern lernen kannIn Amsterdam lernte ich eine Schule ohne Angst kennen: Hier bleibt kein Kind sitzenDas Geheimnis, warum Hollands Kinder gern zur Schule gehen

Japan:

“Fühle mich sicherer als in Deutschland”: Wie Japan das Polizeisystem revolutioniertWie Migranten in Japan helfen, das Land sicher zu machenMimamori – das Zauberwort, das Japans Senioren schütztAn jeder Straßenecke sitzt ein Beamter im Kabuff: Zu Besuch bei Japans Koban-PolizistenWarum die Japaner die Bürgerwehr schätzen, die Deutschen nicht

Schweden:

480 Tage Zeit für die Kinder: Was Deutschland von schwedischer Familienpolitik lernen kannWarum sich der Traum vom eigenen Haus in Schweden viel leichter erfüllen lässtSchwedens Gesundheitssystem ist paradiesisch – vor allem für deutsche ÄrzteStarker Staat, liberale Wirtschaft: Warum in Schweden die glücklichsten Menschen lebenVorbild Schweden? Wie es ist, nicht mal sein Bier bar zahlen zu können  

Im FOCUS Online SPD-Mann Klingbeil präsentiert Langzeitplan im “Morgenmagazin”

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