Als ich mir den Terminplan für die kommende Woche anschaute, erinnerte ich mich an ein Buch, das ich kürzlich gelesen hatte: “Has the West lost it?” von Kishore Mahbubani, dem früheren Uno-Botschafter Singapurs. Das Fragezeichen ist eigentlich überflüssig. Das Buch ist ein Abgesang auf die westliche Vormachtstellung – wirtschaftlich, geostrategisch, kulturell.

Der “Rest”, wie Mahbubani die Weltbevölkerung jenseits des Westens nennt, hat die alten Zentren in Europa und Nordamerika längst überholt. Nur haben wir Westler das noch nicht verstanden. Sagt Mahbubani.

Das Buch ist eine Provokation, natürlich. Es ist durchzogen von schrägen Behauptungen. So kommt China unter der Xi-Diktatur als Musterbeispiel guter Regierungskunst daher und als Garant der multilateralen globalen Ordnung. Das ist einigermaßen abenteuerlich.

Aber zweifellos trifft Mahbubani einen Nerv. Der Westen gibt tatsächlich kein gutes Bild ab in diesen Zeiten.

Objektiv betrachtet sind wir immer noch führend. Nirgends auf der Welt – mit Ausnahme weniger Kleinstaaten wie Singapur oder Katar – ist das materielle Wohlstandsniveau, die Lebenserwartung und die Zufriedenheit der Bürger mit ihrer individuellen Situation vergleichbar hoch. Nach wie vor träumen Migrationswillige auf der ganzen Welt von einem Leben in Nordamerika oder in Westeuropa, auch dies ein eindrucksvoller Beleg für die Attraktivität unseres Gesellschaftsmodells.

Aber dieses Modell hat Risse bekommen, nach außen sichtbare und nach innen spürbare. Was sollen eigentlich Leute anderswo auf der Welt denken, wenn sie den Westen in seinem gegenwärtigen Zustand betrachten?

Werte gegen Geld

Die EU und ihr zweitgrößtes Mitgliedsland Großbritannien schaffen es offenkundig nicht, sich auf ein vernünftiges Prozedere für den Brexit zu einigen, wie der EU-Gipfel in der abgelaufenen Woche gezeigt hat. Weil es nicht gelingt, sich auf einen pragmatischen Kompromiss bei den Grenzkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Land Irland zu einigen, riskieren beide Seite eine ökonomische Frontalkollision mit potenziell drastischen politischen Kollateralschäden.

Nicht genug damit, dass die Briten auf völlig legalem demokratischen Weg per Referendum im Sommer 2016 eine absurde politische Entscheidung gefällt haben. Nun aber sind weder London noch die EU-Partner in der Lage, die Folgen dieses Unsinns einzudämmen. Im Ernst?

Währenddessen in Washington. Vor laufenden Kameras verkündet der Präsident der USA, dessen Vorgänger einst als Anführer der “freien Welt” bezeichnet wurden: Die mutmaßliche Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im saudi-arabischen Konsulat von Istanbul sei natürlich eine schwierige Sache. Aber die Saudis seien nun mal exzellente Kunden der US-Rüstungsindustrie; die könne man nicht so einfach vor den Kopf stoßen.

Man reibt sich die Augen und denkt: Auch frühere US-Präsidenten waren nicht gerade zimperlich, aber eine derart explizite Werte-gegen-Geld-Abwägung ist eine neue Qualität des Verfalls.

Am kommenden Sonntag dürfte in Brasilien Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt werden. Ein Mann, der mit Demokratie nach eigener Aussage nicht viel am Hut hat und der sich öffentlich immer wieder für eine Militärdiktatur ausgesprochen hat. Und das in Brasilien, einem der größten demokratischen Staaten der Welt? Verglichen mit Bolsonaro wirkt Trump wie ein vernünftiger, vorsichtiger und sympathischer Regierungschef.

In der Tat, es war schon mal besser gestellt um den Westen. Noch wird der Laden halbwegs zusammengehalten von einigen technokratischen Institutionen: der EU-Kommission, der US-Notenbank Fed und der Europäischen Zentralbank (achten Sie auf die Entscheidung des EZB-Rats am Donnerstag ), den obersten Gerichten und so weiter. Aber auf Dauer sind auch diese Institutionen nicht immun gegen Zersetzungserscheinungen. Was ist hier eigentlich los?

Verdammt, wo bleibt der Optimismus?

Dem liberalen Westen ist jene Haltung abhandengekommen, die den Liberalismus eigentlich historisch auszeichnet: Optimismus, das Vertrauen auf Fortschritt – und der Wille, die daraus erwachsenden Chancen pragmatisch zu nutzen.

Einer internationalen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew zufolge glauben nur noch 34 Prozent der Bürger im Durchschnitt der westlichen Länder, es werde ihren Kindern einmal besser gehen (in Deutschland: 37 Prozent). Ein schwer greifbarer Pessimismus hat sich ausgebreitet – zugleich Ursache und Folge der politischen Verfallsprozesse.

Ich sehe vor allem drei Gründe für den grassierenden Negativismus:

Erstens, die Demografie . Alternde Bevölkerungen sind vermutlich von Natur aus pessimistischer. Der Anteil der unbekümmerten Jüngeren sinkt, während der Anteil der Mittelalten und vor allem der Betagten steigt. Diese Verschiebungen dürften die Veränderungs- und Risikobereitschaft von Gesellschaften nicht gerade befördern. Dazu kommt ein Stadt-Land-Konflikt. Jüngere gut Ausgebildete zieht es in die Ballungsräume, während die Bedingungen für diejenigen schwieriger werden, die in dünner besiedelten Gebieten zurückbleiben. Zweitens, die Wirtschaft . Der krisenanfällige finanzmarktgetriebene Kapitalismus hat dazu beigetragen, das Vertrauen in Institutionen zu unterminieren. Die Demonstration an Machtlosigkeit, mit der viele westliche Länder in die Finanzkrise vor zehn Jahren stolperten, war eine schockierende Erfahrung.
Brasilien hat in den vergangenen Jahren die wohl tiefste Rezession seiner Geschichte durchlitten und ist von chronischer Korruption geplagt. Kein Wunder, dass jetzt viele einen rechten Scharfmacher wählen. In Gesellschaften, wo zudem der Wohlstand ungleichmäßig verteilt ist, während das staatliche Auffangnetz löchrig ist (wie in den USA), kommt es zum Aufbegehren gegen die Eliten – oder, schlimmer noch, gegen Minderheiten. Drittens, die Medien . Die Art, wie wir uns der politischen Realität nähern, hat sich radikal geändert. Der schärfere Wettbewerb um die begrenzte Aufmerksamkeit der Bürger führt zu Dramatisierung bei gleichzeitiger inhaltlicher Verflachung. Social Media bilden negativistische Echokammern aus und eröffnen neue, direkte Kommunikationskanäle zwischen Politikern und Aktivisten auf der einen Seite und den Bürgern auf der anderen Seite. Extreme Problembeschreibungen und verkürzte Lösungsansätze werden hochgradig komplexen Fragen zwar nicht gerecht. Dennoch lassen sich damit Wahlen gewinnen. Vernünftige Lösungen herauszuarbeiten, ist in westlichen Demokratien schwieriger geworden.

In verschiedenen Ländern sind die drei Bedingungen unterschiedlich stark ausgeprägt. In Brasilien (relativ junge Bevölkerung, tiefe Wirtschaftskrise, starke Social-Media-Verbreitung) wirken eher die Faktoren zwei und drei. In Großbritannien mit seiner extremen Zentralisierung im Großraum London spielt Faktor eins eine größere Rolle. In Skandinavien (stabile Wirtschaft, gleichmäßige Wohlstandsverteilung) dürfte vor allem Faktor drei verantwortlich sein für den Erfolg nationalpopulistischer Parteien.

In den USA wirken alle drei Faktoren gleichermaßen, ebenso in Italien (Einkommensverluste in der Breite der Bevölkerung, einer Auswanderungswelle von Jüngeren und einem qualitativ zweifelhaften Mediensystem). In Deutschland (stabile Wirtschafts- und Einkommensentwicklung, relativ geringe Social-Media-Durchdringung) drücken insbesondere die rasche Alterung der Bevölkerung und ein steileres Stadt-Land-Gefälle auf die gesellschaftliche Stimmungslage (achten Sie auf die Hessenwahl am Sonntag ).

Hat der Westen also seine besten Zeiten hinter sich, wie Mahbubani meint? Das könnte den Gegnern der liberalen Demokratie so passen! Denn auch wenn es um die westliche Demokratie derzeit nicht gerade blendend steht, es gab schon Zeiten, da sah es noch deutlich schlechter aus. Etwa in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, als Faschismus und Kommunismus in einem Land nach dem anderen die offenen Gesellschaften erdrosselten.

Im Übrigen sind die drei Faktoren kein Schicksal. Sie sind gestaltbar. Demografische Stadt-Land-Ungleichgewichte lassen sich mildern durch eine flächendeckende Bildungs- und Kulturpolitik und eine vorausschauende Zuwanderungspolitik.

Eine Wirtschaftspolitik, die nicht allein auf schnelles Geld und billigen Kredit baut, sondern vor allem auf echtes Unternehmertum, sollte Innovationen und Produktivitätszuwächse ermöglichen und damit breiten Bevölkerungsschichten zugutekommen.

Und was die Medien angeht, so braucht es einen neuen Konsens darüber, was berichtenswert ist und was nicht, welche Probleme real sind und welche irreal, wie neue Regulierungen die inhaltliche Qualität von Plattformunternehmen wie Facebook und Google sicherstellen sollen.

Letztlich geht es auch um eine alte Erkenntnis: Das Recht der Bürger, über die öffentlichen Angelegenheiten mitbestimmen zu können, setzt die Bereitschaft voraus, sich eingehend über diese öffentlichen Angelegenheiten zu informieren. Wie sonst sollten in Demokratien vernünftige politische Entscheidungen fallen?

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der kommenden WocheMontag

Saarbrücken – Härte zeigen – Erster “Nationaler Stahlgipfel”: In der Saar-Hauptstadt treffen sich Ministerpräsident Hans (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) mit den Wirtschaftsministern der stahlproduzierenden Bundesländer sowie IG Metall-Chef Hofmann.

Berichtsaison I – Geschäftszahlen von Ryanair, Philips, Halliburton.

Dienstag

Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Renault, McDonald’s, Harley-Davidson, Lockheed Martin, United Technologies, Eli Lilly, Verizon, Caterpillar.

Mittwoch

Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Deutsche Bank, Barclays, DWS, PSA, Microsoft, Boeing, AT&T, Ford, UPS, Visa, KWS Saat.

Donnerstag

Frankfurt/M. – Draghi und die Bremser – EZB-Ratssitzung mit schwieriger Entscheidung: Der angekündigte Ausstieg aus dem Anleihekaufprogramm zu Jahresende kollidiert mit den Sorgen um Italiens Finanzpolitik, die unter der Drei-Sterne-Lega-Regierung auf Konfliktkurs zu Brüssel gegangen ist – und entsprechend heftige Zinssteigerungen zur Folge gehabt hat.

München/Nürnberg – Deutsche Stimmung – Neue Daten zum Ifo-Geschäftsklimaindex und zum deutschen Konsumklima.

Peking – Ost-Ost-Entspannung – Japans Ministerpräsident Abe besucht China anlässlich des 40. Jahrestags des Friedensvertrages zwischen beiden Ländern. Das Vakuum, das die Trumpsche Außenpolitik in Fernost hinterlässt, führt zur Annäherung zwischen den beiden rivalisierenden Ländern.

Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Daimler, Metro, Lloyds, Statoil, SEB, ABB, UBS, Nokia, Alphabet, Amazon, Twitter, Kion, Orange, General Electric, Southwest Airlines, Conoco Phillips, Merck & Co, Intel.

Oslo – West-Ost-Verspannung – Die Nato beginnt ihr größtes Manöver seit Ende des Kalten Krieges. Mit dabei: die beiden neutralen Nordstaaten Schweden und Finnland.

Ankara – Ökonomischer Beistand – Bundeswirtschaftsminister Altmaier besucht die Türkei (bis Freitag). Die Bundesregierung hat klargemacht, dass sie kein Interesse an einer weiteren ökonomischen Destabilisierung des Landes hat.

Freitag

Washington – Der Boom und “the Donald” – Erste Veröffentlichung zum US-Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal.

Frankfurt/M./Darmstadt/Wetzlar/Fulda – Wahlkampfabschluss – Die Hessen-Kampagne geht zu Ende mit allerlei Kundgebungen, unter anderen mit Merkel, Bouffier, Kamp-Karrenbauer, Riexinger, Gysi, Lindner.

Berichtssaison V – Geschäftszahlen von BASF, Total, Royal Bank of Scotland, Eni, Electrolux, LafargeHolcim, Colgate-Palmolive.

Sonntag

Brasilia – Ende der Demokratie? – Zweite Runde der Präsidentschaftswahl in Brasilien. In der ersten Runde hatte der rechtsextreme Kandidat Bolsonaro mit knapp der Hälfte der abgegebenen Stimmen deutlich für sich entschieden.

Wiesbaden – Nach den Volksparteien – Landtagswahl in Hessen. CDU und SPD dürften abermals deutlich dezimiert werden.

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