Vom kleinen Hafen in Framura sind wir mit dem Rad bergauf gestrampelt, über steile Anstiege und enge Serpentinen, durch Tunnel aus Oleander und Bougainvilleas und mitten durch grüne Weinberge. Immer weiter hinauf, bis wir Costa erreicht haben, dieses kleine Dorf, das sich mit seinen ordentlich aufgereihten Häuschen auf einer Bergkante entlangzieht wie ein dicker, bunter Pinselstrich. Hier stehen wir jetzt neben dem uralten Turm, dank unserer E-Bikes immer noch relativ ausgeruht, und gucken verzückt auf das breite, grüne Tal unter uns.

Sanft fällt das Küstengebirge zum Tyrrhenischen Meer hin ab, das im Spätnachmittagslicht silberblau leuchtet. Wir sind an der ligurischen Riviera Levante, auf halbem Weg zwischen Genua und La Spezia. Vor uns ein Fleckenmuster aus Gemüsegärten, Zitronenbäumen und Olivenhainen, dazwischen ein paar hingeduckte Bauernhäuser und eine Handvoll borghi, Miniaturdörfer in ligurischen Bonbonfarben.

Wege führen zwischen Ziegenweiden und plätschernden Wasserkanälen hindurch in Richtung Meer, vorbei an Eseln, die bis zu den Knien im Gras stehen. Auch einen alten, die Sense schwingenden Mann mit Strohhut können wir sehen.

Bislang kannte ich Liguriens Riviera Levante, diesen schmalen Streifen Land zwischen Genua und der Toskana, vor allem als eng und überlaufen. Das liegt daran, dass es hier insgesamt nur sehr wenig Platz gibt, und dass sich auf diesem wenigen Platz einige der idyllischsten Postkartendörfer Italiens konzentrieren, die jeder Tourist gesehen haben will: die Cinque Terre, fünf einst völlig isolierte Fischerörtchen vor steil terrassierten Berghängen.

Kaum ein Italienurlauber, der hier von Mailand, Genua oder Florenz aus nicht schnell noch vorbeischaut. In den weniger idyllischen Badeorten dazwischen lagern italienische Zweithausbesitzer auf den Liegestühlen wie Sardinen. Dass es mitten in dieser drangvollen Enge noch stille, unentdeckte Juwelen wie Framura geben könnte, damit hatte ich nicht gerechnet. Dabei muss man nur ein bisschen suchen.

Das schöne an Ligurien ist der Meerblick

Das Enge, Gedrängte macht natürlich auch den Reiz Liguriens aus. Weil die steilen, waldreichen Gebirgshänge des Apennins so dicht ans Meer heranrücken, waren die Ligurier von jeher gezwungen, sich auf kleinen Landstückchen zu arrangieren. Sie siedelten in kleinen Buchten, auf Hügelkuppen.

In Meeresnähe bauten sie ihre Häuser schmal und viele Stockwerke hoch, rückten sie eng aneinander, strichen sie in heiteren Pastelltönen und schraubten grüne Fensterläden vor die Fenster, die sich nach außen ausklappen lassen, sodass das starke Licht des Südens in Streifen in das schattige Innere fällt. Statt Straßen legten sie schmale Gassen an, gerade breit genug für Fußgänger, Maultiere und neuerdings auch E-Bikes.

Aus fünf solchen über die Hänge verstreuten Dörfchen besteht Framura, das im Dornröschenschlaf vor sich hindämmert, obwohl es nur 15 Kilometer Luftlinie bis zu den Cinque Terre sind. Touristen können aus drei recht bescheidenen Hotels auswählen.

Außerdem hat die Gemeinde die ehemalige Schule in Setta in eine Jugendherberge umgewandelt. Vier mittelalte Koreaner mit Wanderrucksäcken stehen dort im Garten, fotografieren den Meerblick und sind glänzender Laune. Wie sie in Seoul ausgerechnet auf das unbekannte Framura gekommen sind, wollen wir wissen. „Über Booking“, strahlen sie. „In den Cinque Terre war nichts mehr frei.“

Den Rückweg zum Meer legen wir auf den alten Verbindungswegen zwischen den borghi zurück. Wir tragen die Bikes über lange Treppen, schieben sie unter Torbögen durch. Aufgeplatzte Feigen liegen auf dem Weg, der von herrschaftlichen Villen mit verblassten Fassaden gesäumt ist. Eine alte Dame, in einer Glyzinienlaube über die Tageszeitung gebeugt, streichelt die Katze auf ihrem Schoß.

Framura ist eine traditionelle Sommerfrische für Familien aus Mailand und Genua, das mit seiner tragisch eingestürzten Autobahnbrücke und dem daraus resultierenden Verkehrschaos eine gute Autostunde entfernt in einer andern Welt liegt. Auch jetzt im Herbst schauen die Zweithausbesitzer gern übers Wochenende vorbei, denn die Sonne scheint warm, und im Hafen kann man im Oktober noch baden, zwischen den Fischerbooten in der Sonne sitzen und sich kultiviert über neue Bücher und Theaterpremieren austauschen.

Fahrrad fahren wie mit Flügeln

Nur wir müssen leider zurück zum Bike-Verleih in Levanto, dem übernächsten Küstenort. Ein entspanntes Treten, seit die lange stillgelegten Eisenbahntunnel direkt am Wasser in einen Radweg umgewandelt wurden. Weil es keine Küstenstraße gibt, hätten wir früher schweißtreibend durchs Küstengebirge keulen müssen.

Doch jetzt sausen wir wie mit Flügeln durch die schwach beleuchteten, 150 Jahre alten Galerien, in denen sich immer wieder Fenster aufs Meer öffnen. Draußen brechen sich die Wellen am Fels, Feuchtigkeit tropft von den Wänden, die Fahrt hat etwas von einer Szene aus einem Fantasy-Film.

Bis wir auf halber Strecke im netten kleinen Badeörtchen Bonassola wieder ans Licht kommen, auf ein Eis in der heiteren ligurischen Pastellwelt. Und dann Levanto erreichen.

Das stillere, weniger bekannte Ligurien ist leicht zu finden. An der Küste sucht man es am besten dort, wo die viel befahrene Uferstraße Via Aurelia ein Stück im Hinterland verläuft.

Und findet zum Beispiel Moneglia, ein hübsches Badestädtchen mit neogotischem Kitschschloss, ehemaligem Kloster, Palmenwald und Sandstrand. Nur die neonfarben ausgestatteten Wanderer, die hier auf dem 600 Kilometer langen Wanderweg Sentiero Liguria von Luni nach Ventimiglia vorbeimarschieren, verleihen dem friedlichen Glück im Liegestuhl eine unpassend aktivistische Note.

Kleine Dörfer klammern sich wie Adlernester an die Hänge

Oft reicht es auch, selbst ein oder zwei Kilometer ins Hinterland der Levante auszuweichen, wo sich kleine Bergdörfer wie Adlernester an die Hänge klammern. In Castelnuovo Magra zum Beispiel, dessen zinnenbesetzter Schlossturm sich weithin sichtbar gegen die wild gezackte Kette der Apuanischen Alpen abhebt.

Eine schnurgerade Gasse verbindet die Überreste der mittelalterlichen Burg mit einer blassrosa Barockkirche, die auf den ersten Blick viel zu groß für den kleinen Ort erscheint. Doch Castelnuovo war einmal stolzer Bischofssitz.

Drinnen nur zwei betende alte Frauen – und über dem Marienaltar der vermutlich am wenigsten beachtete Brueghel der Kunstgeschichte: eine Kreuzigung unter bedrohlichem Gewitterhimmel. Was suchte Pieter Brueghel der Jüngere in Ligurien? Laut Reiseführer nichts. Brueghel war nie hier. Man nimmt an, dass ein wohlhabender Gläubiger der Kirche das Gemälde gestiftet hat.

Dabei hätte der flämische Genremaler rund um Castelnuovo schöne Anregungen für Wirtshausszenen mit gefüllten Weinkrügen gefunden. Denn an der Levante-Küste wird Weinbau betrieben, wenn auch – im Vergleich mit den Nachbarregionen Piemont und Toskana – nur im sehr kleinen Stil.

Immer dieselbe Geschichte: „Es gibt einfach keinen Platz in Ligurien“, seufzt Diego Bosoni vom Weingut Lunae und bereitet im Innenhof des raffiniert auf antik getrimmten Gutshofs eine kleine Degustation vor. „Unser größter Weinberg ist gerade mal drei Hektar groß!“

Was ihn und seine Familie nicht davon abhält, mit Einsatz und Ideenreichtum gleich 16 verschiedene Weine zu keltern, darunter auch einige in Vergessenheit geratene, autochthone Sorten wie Albarola oder Massareta. Doch das Hauptaugenmerk liegt auf dem Vermentino, Liguriens weißer Symbolrebe, die bei Lunae duftend und mit eleganter Salznote ins Glas fließt. „Na, schmecken Sie das Meer?“, will Diego Bosoni wissen.

Montemarcello markiert die Grenze zur Toskana

Wir schmecken es, wir riechen es – und wir sehen es. Doch während es sich von Castelnuovo aus schlicht als „langer blauer Strich“ zeigt, wie der Lyriker Tonino Guerra das Meer so schön beschrieben hat, präsentiert es sich unterhalb von Montemarcello als gigantischer flaschengrüner Salzwasserpool mit Schaumkämmen.

Auch Montemarcello ist wieder so ein Bergnest. 200 Meter über dem Meer auf einer Halbinsel zwischen der Mündung des Flusses Magra und dem Golf von La Spezia gelegen, der urlaubenden Dichtern wie Mary Shelley, Lord Byron und D.H. Lawrence den Rufnamen „Golfo dei Poeti“ verdankt, markiert es die Grenze zwischen Toskana und Ligurien.

Die Häuser in der alten Ortschaft sind hübsch renoviert, die Fassaden in Brombeer- und Vanilletönen gestrichen; Hortensientöpfe aus Terrakotta und tibetanische Gebetsfahnen verraten die großstädtischen Zweithausbesitzer.

„Die Leute, die hier wohnen, kommen alle von woanders her“, sagt Carla Iannitello, die auf der autofreien kleinen Piazza mit einer Freundin das „Caffè delle ragazze“ betreibt und Gäste mit liebevoll zubereiteten Speisen und ligurischen Kräuterlimonaden aus Thymian, Salbei und Basilikum bewirtet. Carla weiß, wovon sie spricht, denn sie selbst arbeitete noch vor drei Jahren als PR-Profi in Mailand. Warum sie nach Montemarcello umgesiedelt ist? „Ligurien braucht frischen Wind und gibt frischen Wind“, sagt sie lachend.

In La Spezia tummeln sich die Kreuzfahrttouristen

Unten an der Küste ist derweil die „Symphonie of the Seas“ in den Golf eingefahren. Das größte Kreuzfahrtschiff der Welt mit seinen 20 Restaurants und sieben Erlebniswelten steuert den Marine- und Industriehafen von La Spezia an, wo – wenn es dumm läuft – bis zu 6500 Passagiere gleichzeitig an Land gehen und das nahe Portovenere entern.

Portovenere ist Unesco-Weltkulturerbe und hat mit seinen ultraschmalen, knallbunten und bis zu sechs Stockwerke hohen Fischerhäusern am Hafen, mit gotischer Streifenkirche auf meerumtostem Felsvorsprung und einem Schloss selbst das Zeug zur Erlebniswelt. Die romantische und gerade mal handtuchbreite Via Capellini, die sich parallel zum Hafen durch die Häuserschlucht zieht, ist mit Wine-Bars und Souvenir-Shops jedenfalls schon deutlich dichter gepflastert, als es dem Individualreisenden lieb wäre.

Da bleiben wir doch lieber auf der anderen Seite des Golfs. Und zwar in Tellaro, das sich an der grün bewaldeten Steilküste zusammendrängt, ganz wie in den Cinque Terre. Die Gassen sind eng, holprig und krumm, vor den Haustüren stehen Wäscheständer, auf jedem zweiten Klingelschild prangt der Name Tellarini, wie zum Beweis dafür, dass das Leben hier noch fest in der Hand der Einheimischen ist.

Nur unten am winzigen Hafen-Strand entdecken wir einen Zugereisten. Er sitzt zwischen den an Land gezogenen Fischerbooten auf einem mitgebrachten Klappstuhl am Wasser, das in sanften Wellen angeschwappt kommt. In seiner Hosentasche steckt ein Zugticket, in seinen Händen ein Buch, doch er hat es sinken lassen und guckt aufs Meer. Man braucht gar nicht viel Platz, um glücklich zu sein.

Tipps und Informationen

Anreise: Per Flugzeug zum Beispiel mit Lufthansa von München und Frankfurt nach Genua. Allerdings kostet die Stadtumfahrung nach dem Einsturz der Autobahnbrücke in Genua viel Zeit. Alternativ kann man etwa mit Easyjet nach Pisa fliegen. Die Bahnlinie Genua–La Spezia bedient nahezu jeden Küstenort und ist eine lohnende Alternative zum Auto, auch für Tagesausflüge (trenitalia.com).

Unterkunft: „Hotel Edera“: Aussichtsreich in Moneglia gelegen, mit Bio-Küche, künstlerisch gestalteten Zimmern und familiärer Führung, Doppelzimmer mit Frühstück ab 145 Euro, Mindestaufenthalt 2 Nächte (villaedera.com). „Park Hotel Argento“: Gelegen im Grünen oberhalb von Levanto, bietet viel Platz und Komfort, Doppelzimmer mit Frühstück ab 140 Euro (parkhotelargento.com). „B&B Le Palme“: Der Blick von der Terrasse ist so schön, dass man Ausflugspläne sofort begräbt, Doppelzimmer mit Frühstück ab 70 Euro (bnblepalme.it). „Il Laghello di Amina“: Charmanter, zu Apartments umgebauter Bauernhof in Framura mit Agriturismo und Wein-, Honig- und Öl-Herstellung. Apartment für bis zu vier Personen ab 190 Euro/2 Nächte (laghello.it)

Weitere Infos: enit.de; agenziainliguria.com

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von InLiguria. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.de/unabhaengigkeit.

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